II

 

Das Bett, in dem ich erwachte, war groß, weiß und erinnerte stark an die Betten, wie man sie auch in Krankenhäusern findet.

Ein weißer Verband bedeckte die Einstichstelle, durch die das Gift in meinen Körper geflossen war.

Meine Muskeln schmerzten. Besonders aber tat es weh, wenn das dünne, weiße Nachthemd, welches man mir angezogen hatte, über meine Brust rieb.

Verwirrt blickte ich mich um.

Normalerweise hätten meine Überreste – Asche, vielleicht kleine Knochenstücke und die Füllung meines linken Backenzahns – in einer Urne liegen müssen, die wiederum auf dem Friedhof des Gefängnisses ruhte. Ein schlichtes Holzkreuz – Name, Geburtstag und ein mit einem X versehener Todestag. X – für Exekution.

Das weiße, weiche Bett sah nicht aus wie eine Urne, es fühlte sich auch nicht so an. Vor allem aber fühlte sich das Erwachen nicht an, als sei dies das Leben nach dem Tod. Das Paradies.

Nun ja, die Hölle war es auch nicht.

Ich schaute mich weiter um. Der Raum war in etwa so groß wie meine Zelle im Todestrakt; drei Meter mal drei Meter. Immerhin entdeckte ich eine offene Tür, hinter der sich ein Badezimmer befand.

Das Fenster links von mir war vergittert. Die Tür, die wahrscheinlich hinaus auf einen Gang oder zu einem anderen Raum führte, besaß keine Klinke und kein Schloss. Es war mir also nicht möglich, sie zu öffnen.

Neben mir stand ein Nachttischchen und auf diesem wiederum ein Plastikbecher mit Orangensaft.

In der Luft lag ein angenehmes Aroma; es roch nach Zitrone und Frühlingsfrische. Passend zur Jahreszeit, denn wir hatten Mai.

Kein guter Monat, um exekutiert zu werden …

Langsam stand ich auf, schwang die Beine aus dem Bett und stöhnte, als meine Muskelschmerzen stärker wurden.

Vor allem aber steigerten die Bewegungen das Brennen auf der Brust.

Was zur Hölle …? Langsam schob ich das Nachthemd nach oben, streifte es über den Kopf und blickte an mir herab.

Zwei kreisrunde Brandwunden zeichneten sich rechts und links über meinen Rippenbögen ab.

Sie haben mich reanimiert. Mit Elektroschocks aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Ein Schauer rieselte über meinen Rücken. Ich war auf dieser elenden Pritsche gestorben. Und dann …

Hatten sie begriffen, dass sie mir Unrecht taten? Dass sie mich nicht einfach verschwinden lassen konnten – auch wenn ich keine nahen Angehörigen mehr hatte, die sich um mich kümmerten?

Fast schien es so. Das zumindest war in diesem Moment die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab.

Ich hatte das Nachthemd gerade wieder angezogen, als ein Summen erklang und die Tür aufschwang.

Ein älterer Mann – seinem Aussehen nach hatte er die Fünfzig bereits überschritten – trat ein und schaute mich abschätzend an. In der Hand hielt er einen Schnellhefter, eine Notebooktasche hatte er sich über die Schulter gehängt.

Hinter ihm erschien eine deutliche jüngere Frau. Sie trug zwei Stühle.

Erst jetzt fiel mir auf, dass es in meinem Raum keinen Tisch und keine Sitzgelegenheiten gab. Nur eben das Bett und den Nachttisch.

Kein Schrank, in dem meine Kleider hätten hängen können.

»Mein Name«, stellte sich mein Besucher vor, »ist Deputy Director Steward Redcliff, United States Marshals Service. Ich leite die Abteilung für Spezialfälle.«

»Zeugenschutzprogramm?«, frage ich erstaunt. Was will der denn von mir?

»Nein, Spezialfälle!«

Redcliff sagte dies, als seien damit alle Unklarheiten beseitigt. Dabei wusste ich nicht, was das United States Marshals Service – USMS – unter Spezialfällen verstand. Vor allem aber wusste ich nicht, was zur Hölle hier lief.

»Haben Sie mich … reanimieren … lassen?«, fragte ich vorsichtig. Dass die beiden vor meinem Bett standen, konnte schließlich kein Zufall sein.

»So ist es«, bestätigte Redcliff. »Sie haben eine Familie ausgelöscht. Aber mehr als das haben Sie dem USMS damit einen erheblichen Schaden zugefügt.«

Ich verdrehte die Augen. »Zum x-ten Mal – ich habe keine Familie abgeschlachtet. Auch wenn es mir zur Last gelegt wird. Ich war es nicht.« Dann fiel mir ein, was er gerade gesagt hatte. »Haben Sie mich reanimieren lassen, um mich noch einmal hinzurichten?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Commander. Und um auf Ihre Verteidigung zurückzukommen, so lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie diese Familie ausgelöscht haben. Sie brachen in das Haus der Robinsons ein und schlachteten jeden einzelnen ab. Auch Deputy Marshal Jack Robinson; einer unserer fähigsten Männer. Wir haben Aufzeichnungen, die Sie bei dieser Bluttat zeigen.«

»Aufzeichnungen? Hätte es Filme von Überwachungskameras gegeben, so hätte man diese bei Gericht verwertet.«

Redcliffs Begleiterin nahm das Notebook aus der Tasche des Mannes, klappte es auf und hielt es so, dass ich den Monitor sehen konnte. Dann startete sie ein Programm zur Wiedergabe von Videos.

Es dauerte nur Sekunden, bis ich mich selbst dabei beobachtete, die Familie Robinson niederzumetzeln.

»Die Kameras«, erklärte Redcliff ungerührt, »waren an versteckten Stellen angebracht. Wir bargen die Filme, noch bevor die Ermittler etwas fanden.« Er drehte den Kopf und schaute ebenfalls auf den Monitor. »Sie waren schnell, effizient und absolut tödlich. Wären nicht Freunde von uns gestorben, würde ich Sie zu dieser Leistung beglückwünschen.«

Ihm war anzusehen, wie sehr er sich in diesem Moment beherrschte. Wut und Trauer spiegelten sich in seinen Zügen wider.

Noch schlimmer war es vermutlich bei mir, denn bis zu diesem Moment hatte ich geglaubt, jemand anderes habe die Taten begangen und mir in die Schuhe geschoben.

Wie kam es, dass ich mich nicht an das erinnerte, was ich getan hatte?

Ein Doppelgänger wäre eine mögliche Erklärung gewesen. Aber die Bewegungsabläufe, die Methoden, wie ich agierte, waren mir vertraut. Zu vertraut, als dass sie jemand hätte kopieren können.

Der Film stoppte.

Die junge Frau, die das Notebook bediente, öffnete nun ein Foto. Es zeigte einen gut aussehenden Mann in den besten Jahren.

»Sie kennen ihn?«

Sofort nickte ich. »Jules LeClerk. Ich … traf mich ein paar Mal mit ihm. Bevor ich verhaftet wurde …«

»An dem Abend, als Sie die Robinsons abschlachteten, war er ebenfalls bei Ihnen. Nicht wahr?«

Ich nickte. »Wir aßen gemeinsam, tranken Wein und … Nun ja, taten, was erwachsene Menschen eben tun.«

»Sie haben gegessen, getrunken – und sind dann zu den Robinsons. Anschließend hatten Sie Sex. Jules LeClerk ist kein Unbekannter. Er übt … Macht … aus. Raubte Ihnen Ihren Willen und Ihre Erinnerung, benutzte sie als Werkzeug für seinen Plan und verschwand, als man Sie verhaftete.«

Noch einmal startete die junge Frau den Film, stoppte aber, als ich besonders gut zu sehen war, und zoomte heran, um mein Gesicht zu vergrößern.

Deutlich war mein starrer, völlig entrückter Blick zu erkennen.

»Das Urteil gegen Sie war letztlich gerechtfertigt, da man Ihre Spuren fand und Sie die Waffen führten. Die Wahrheit jedoch hätte vor Gericht keinen Bestand gehabt. Die kennen nur wenige.«

»Darum haben Sie mich erst exekutieren und dann reanimieren lassen?«

Redcliff nickte. »Lara Meyer wurde laut Gerichtsurteil des Militärgerichts in Washington DC vorschriftsmäßig exekutiert, nachdem sie zuvor auf sämtliche Rechtsmittel verzichtete.«

»Das tat ich nicht!«

Er zuckte mit den Schultern. »Doch, das taten Sie. Oder anders – wir taten es für Sie, denn es bestand nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Das wird Ihnen nun, da Sie den Film kennen, klar sein.«

»Und das heißt was?« Zorn stieg in mir auf. Es fiel mir schwer, meinen Ärger zu verbergen. Nur mühsam brachte ich die Worte in einem zivilisierten Ton heraus.

»Sie haben die Wahl. Entweder, Sie arbeiten für die Spezialabteilung des USMS, oder …«

»Oder?«

Redcliff zuckte mit den Schultern. »Das Grab mit Ihrem Namen ist frisch. Es fällt uns nicht schwer, eine Leiche in den bislang leeren Sarg zu legen.«

Fahr zur Hölle, Mistkerl! Ich wandte mich ab, um meinen Ärger zu verbergen. Obwohl ich die Familie offenbar abgeschlachtet hatte, fühlte ich mich nicht schuldig. Es gab den Film, ich hatte ihn gesehen. Aber emotional war ich an der Tat nicht beteiligt.

»Miss Phönix, wie verstehen Ihren Ärger«, erklärte die junge Frau sanft. Es waren die ersten Worte, die sie sprach. »Wir versuchen, Ihnen zu helfen. Auch, indem wir Sie für uns gewinnen und Sie uns helfen.«

»Ich heiße nicht Phönix. Mein Name ist Meyer«, gab ich schwach zurück. »Wenn Sie mir helfen wollen, dann rehabilitieren Sie mich. Dann kann ich zurück nach Langley und meinen Job machen. So wie bisher.«

»Sie arbeiten weiterhin für die Regierung, sind weiterhin eine Agentin – nur unter neuer Identität und für eine andere Abteilung. Nicht mehr die CIA ist ihr Arbeitgeber, sondern das Justizministerium.« Sie griff nach meiner Hand. »Wir sind nicht Ihre Feinde. Wir vergeben Ihnen, denn Sie trifft keine Schuld. Wir wissen das.«

»Sagen Sie es meinen Bossen und dem Richter, schon ist alles in Butter!« Ich funkelte sie an. Mit ihrer weichen Stimme und dem milden Gehabe konnte sie mich nicht besänftigten.

»Was würde passieren, wenn wir zu Ihrem Boss gehen und ihm sagen, dass Jules LeClerk etwa 450 Jahre alt ist und zudem zur Rasse der Vampire gehört?«, fragte Redcliff. »Was würde er sagen, wenn wir ihm von Vampiren berichten, die unter uns leben und niemals einen Menschen töten? Wenn wir ihm sagen, dass es aber auch andere Blutsauger gibt? Solche, die sich an die Spitze der Nahrungskette setzen wollen, um uns als Getränketüten zu missbrauchen?«

»Wollen Sie mich verarschen?«, fragte ich Redcliff. Meine Stimme klang nun laut. »Denken Sie, ich würde auf diesen Scheiß …«

Mein Blick fiel auf die junge Frau an Redcliffs Seite. Ihre Augen leuchteten rot, Hauer wuchsen aus ihrem Mund.

»Ich bin 276 Jahre alt«, sagte sie. Ihre Stimme war noch immer weich, aber nun schwang etwas Bedrohliches in ihr mit. Sie berührte mich – und plötzlich war es, als würde jede Gegenwehr in mir, jeder klare Gedanke einfach beiseite gefegt. Übrig blieb der Wille, ihr jeden verdammten Wunsch zu erfüllen. Mich ihr anzubieten. Als Objekt der Begierde, als Mahlzeit oder Dienerin.

Sie hielt den Bann nur Sekunden aufrecht, aber als sie ihn löste, begann ich zu begreifen. Ihre Augen und die Hauer – das war kein Trick gewesen.

»Wir verlegen Sie in unsere Zentrale in Mount Paxton, Maine. Dort werden Sie einen Lehrgang absolvieren und die Basics unserer Arbeit kennenlernen, ehe wir Sie einem erfahrenen Deputy Marshal zuordnen. Natürlich nur, wenn Sie annehmen, was wir Ihnen bieten.«

»Und wenn nicht?«, fragte ich frustriert, gleichzeitig aber auch verwirrt.

»Grab 1198 – dritte Reihe im vierten Quadrant des Gefängnisfriedhofs. Sie können entweder Lara Meyer sein – und in einer Urne auf das jüngste Gericht warten, oder Sie sind Lara Phönix und leben ein neues Leben im Dienste des USMS – Abteilung für Spezialfälle. Geistige Kontrolle durch Vampire wird vor keinem Gericht der Welt als mildernder Umstand anerkannt. Sie haben gemordet – dieser Fakt rechtfertigt Ihre Exekution.«

»Sie sind ein elender Mistkerl!«, ließ ich Redcliff wissen. »Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie mir diese Scheiße passieren konnte. Ich fühle keine Schuld. Und Jules … Dennoch tun Sie so, als träfe mich eine Mitverantwortung.«

»Seien Sie froh, dass wir uns Ihre Fähigkeiten zunutze machen wollen«, erwiderte Redcliff kalt. »Jeden anderen hätten wir seinem Schicksal überlassen. Es ist nicht unsere Schuld, dass die Welt auf andere Weise funktioniert, als es das Gros der Menschen glaubt. Wir sind keine Altruisten, sondern verhindern nur das Schlimmste. Der Tod eines unschuldig Verurteilten ist nicht das Schlimmste.« Er lächelte sarkastisch. »Aber seien Sie versichert, dass wir Gegner der Todesstrafe sind und jede Petition unterschreiben, die sich mit diesem Thema befasst.«

»Sie sind kein Mistkerl«, zischte ich. »Sie sind ein elender Wichser.«

Er stand auf und lachte. Dann verließ er den Raum.

Die junge Frau – die Vampirin, die sehr viel älter ist als gedacht – blieb zurück. »Er ist ein Schwanz. Aber man muss auch ein Schwanz sein, um diese Abteilung zu leiten.«

»Und man muss einen haben, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Seine Stellvertreterin hat keinen.« Damit stand sie auf, nahm meine Hand und legte sie zu meinem Erstaunen auf ihren Schritt. »Siehst du? Kein Schwanz!«